Hartmut Fuchs, Projektleiter von Willkommen in Döbeln, blickt auf die Höhen und Tiefen des Jahres 2022 zurück.
„2022 war ein intensives Jahr für unser Bündnis Willkommen in Döbeln — am 24.12 war der letzte Termin. Ich wurde gefragt, ob ich für die Kinder im Ankunftszentrum für Geflüchtete Menschen aus der Ukraine in Waldheim den Weihnachtsmann spielen kann. Als ich einige Wunschzettel der 42 ukrainischen Kinder gelesen hatte, stand es außer Frage diese Rolle zu übernehmen. „Ich möchte, dass der Krieg aufhört und Papa wieder bei uns ist“, „Ich wünsche, dass sich alle Menschen gut verstehen und ich wünsche mir ein kleines Fest“, „Bonbons und eine Schokolade“, „eine Puppe“, „Ich möchte nach Hause und meine Oma wiedersehen“, „ein Kuscheltier“. Die Wunschzettel hatten uns alle sehr berührt und doch drücken sie das Grundlegendste aus — den Wunsch nach einem friedlichen Leben miteinander.“
Begonnen hat das Jahr für Willkommen in Döbeln mit der Vorbereitung für den Transfer unseres Projekts FormularLotse, welches zusammen mit der Migrationsberatung den Schwerpunkt der täglichen Arbeit bildet. Aber mit Beginn des schrecklichen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar wurde alles anders. Für Millionen Ukrainer*innen blieb nur ein Ausweg — die Flucht. Wir waren anfangs erstaunt, wie schnell die Länder der Europäischen Union ihre Grenzen für diese Menschen bedingungslos öffneten und unmittelbar eine gesetzliche Reglung zum Aufenthalt der Kriegsflüchtlinge beschlossen. Wir fordern, dass dies nicht nur für Menschen aus der Ukraine gilt, sondern für alle Menschen, die egal von wo, vor Krieg flüchten müssen.
Als größte Herausforderung in dieser neuen Situation erwies sich die Zusammenarbeit zwischen ehren- und hauptamtlichen Strukturen. Zu Beginn einer so massiven Flüchtlingssituation entsteht erstmal ein fast undurchschaubares Chaos, tausende geflüchtete Menschen überqueren Grenzen und brauchen Unterstützung — hauptamtliche Strukturen sind völlig überlastet. Zum Beispiel wurde zu Beginn der Fluchtbewegung nach Deutschland am 28. Februar die Aufnahmeeinrichtung Leipzig-Mockau für ukrainische Geflüchtete benannt, am 29. Februar um 8 Uhr war diese bereits ausgelastet. Das Gleiche galt für die Registrierung und Aufnahme der Ukrainer*innen in den Ausländerbehörden.
Im Jahr 2022 zeigt sich infolge der Eskalation des Krieges in der Ukraine eine enorme Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft. Etwas mehr als die Hälfte aller Menschen in Deutschland hat sich in irgendeiner Form engagiert. Die hauptamtlichen Strukturen sind auf diese ehrenamtlichen Helfer*innen angewiesen. Von heute auf morgen tausende Geflüchtete aufzunehmen, zu registrieren, zu versorgen und unterzubringen war und ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dies konnte nicht allein von staatlichen Behörden geleistet werden. Wir konnten in kürzester Zeit ein Bündnis ehrenamtlicher Helfer*innen aus der Döbelner Zivilgesellschaft aktivieren und koordinieren. Dabei nutzten wir unsere entwickelten Strukturen und Erfahrungen aus der Zeit seit 2016, um den Menschen aus der Ukraine zu helfen. Es entstand ein Bündnis von Helfer*innen aus allen notwendigen Bereichen der Stadtgesellschaft, Mitarbeiter*innen aus dem Rathaus, Wohnungsverwaltungen, Kirchengemeinden, Industrie und Handel, Diakonie und vielen privat engagierten Döbelner*innen.
Am 23. März eröffnete unser Ukraine-Hilfe-Center in der Döbelner Innenstadt. Die TAG-Wohnungsgesellschaft hatte den Raum kostenfrei zur Verfügung gestellt, die Betriebskosten wurden durch Spenden der Döbelner*innen getragen. Durch viele Sach- und Geldspenden waren wir in der Lage, die entstehenden Versorgungslücken zu schließen und alle Hilfsanfragen über dieses Center zu koordinieren. Alle in Döbeln angekommenen Ukrainer*innen konnten durch ehrenamtliche Helfer*innen in privat zur Verfügung gestellten Wohnungen untergebracht werden. An dieser Stelle ein riesiges Dankeschön an alle Helfer*innen, die das ermöglicht haben. Um eine Versorgung zu gewährleisten, mussten alle geflüchteten Menschen im Landratsamt registriert werden. Anfänglich wurde die Registrierung in drei bis fünf Tagen durchgeführt, in den Monaten April und Mai verlängerte sich diese Wartezeit auf bis zu sechs Wochen. Ein besonderer Dank gilt hier der Lichtblickstiftung aus Dresden, die unkompliziert und sehr schnell Spenden für das Ukraine-Hilfe-Center ermöglichten.
Neben den ukrainischen Geflüchteten verstärkten sich aber ebenso Fluchtbewegungen aus anderen Krisenzonen der Welt. Den Vorwurf, dass Ukrainer*innen besser behandelt werden, können wir dabei nicht bestätigen. Willkommen in Döbeln macht keinen Unterschied zwischen Geflüchteten aus europäischen oder arabischen Ländern bei seiner Arbeit, sei es in der Beratung oder in den Werkstätten. Der Unterschied liegt in der Gesetzgebung, ukrainische Geflüchtete haben sofort eine gesetzliche Aufenthaltsgenehmigung, anderer durchlaufen ein umfangreiches Asylverfahren.
Die ersten Wochen in der neuen Situation waren fast identisch mit der Situation im Jahr 2015. Wieso wurden aus 2015 keine entsprechenden Lehren gezogen, war man der Meinung, dass Fluchtbewegungen in dieser Größe und Dringlichkeit nicht wieder passieren werden? Die INBAS-Sozialforschung-Studie „Kooperation von Haupt- und Ehrenamtlichen in der Arbeit mit Geflüchteten, Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen“ vom Innenministerium aus dem Hahr 2018 verwies bereits auf diese Thematik der dringlichen Zusammenarbeit von Ehren- und Hauptamt. Handlungsempfehlungen wurden jedoch nicht angenommen oder beachtet.
Was können wir daraus lernen? In vielen Gesprächen mit Ehrenamtlichen wurden mangelnde Zugänge zu Informationen und Intransparenz beklagt. Der mit Abstand am häufigsten genannte Punkt sind bürokratische Hürden. Dazu zählen komplizierte Antragsformulare, unklare bürokratische Regelungen und undurchsichtige Vorgaben. Bemängelt wird, dass diese häufig nur auf Deutsch und in sehr komplexer Sprache verfügbar sind, wodurch ukrainische Geflüchtete definitiv auf Hilfe angewiesen sind.
Genau diese Situation hatte uns Ende Mai Sorgen bereitet, ab dem 1. Juni wurden die ukrainischen Geflüchteten von der Asylbewerberleistung in die SGB II Versorgung übernommen, das hieß, dass die Verantwortung beim Jobcenter lag. Somit stellte sich erneut ein „Antragswahnsinn“ ein. Zudem hat sich die Anzahl der Geflüchteten aus humanitären Gründen innerhalb von vier Monaten in Döbeln und dem Altkreis verdoppelt.
In Vorbereitung der Übernahme in die SGB II Versorgung haben wir durch bestehende Netzwerke eine Kooperation mit dem Jobcenter und unserem Projekt FormularLotse vereinbart. Mit einer Schulung konnten sich Ehrenamtliche für das Ausfüllen der Formulare von Mitarbeiter*innen des Jobcenters schulen lassen. Unsere Migrationsberater*innen und FormularLotsen bekamen einen direkten telefonischen Zugang zu den Berater*innen des Jobcenters. Durch die DSEE-Stiftung konnten wir bis Jahresende eine weitere Formularlotsenstelle einrichten, allein deswegen war es uns möglich den erhöhten Bedarf abzusichern.
Im September 2022 mussten wir uns von einer unserer Migrationsberater*innen verabschieden, die seit 2 ¼ Jahren bei uns tätig war und eine fantastische Arbeit geleistet hat. Wir wünschen ihr alles Gute auf ihrem neuen Berufsweg. Mit Irina konnten wir unsere neue Migrationsberaterin begrüßen. Eine weitere Verstärkung unseres Teams erhielten wir durch Mandy im Projekt FormularLotse.
Im Laufe des Herbstes hat sich die Lage verbessert, aus der „Akuthilfe“ wurden „organisierbare Pfade“ — die Menschen waren registriert, untergebracht, versorgt und die Kinder gehen in die Schule. Dass dies alles möglich war, verdanken wir dem riesigen Engagement der Zivilgesellschaft, aber auch den gewaltigen Anstrengungen in den Behörden und staatlichen Einrichtungen.
Während der laufenden Unterstützung haben wir begonnen mit Beteiligen aus den unterschiedlichsten Bereichen Gespräche und Interviews zu führen, um erlebte Prozesse zu hinterfragen und Schlussfolgerung daraus zu ziehen. Von verschiedenen Organisationen, wie der Deutschen Stiftung für Ehrenamt und Engagement (DSEE) bekamen wir Unterstützung und waren mit vielen anderen im Austausch. Die Stiftung Bürger für Bürger aus Sachsen-Anhalt befragte viele Organisationen im mitteldeutschen Raum über ihre Erfahrungen in der Unterstützung der Ukrainer*innen und haben eine erste Auswertung in einer Broschüre veröffentlicht. Diese Ergebnisse decken sich mit unserer Auswertung.
„Es ist festzuhalten, dass sich die Zivilgesellschaft erneut als schnelle und handlungsfähige Säule in der Geflüchtetenhilfe erweist. Erste Anzeichen aus der Zivilgesellschaft deuten allerdings bereits auf einen Rückgang des aktuellen Engagements und der Ausschöpfung von Ressourcen und Kapazitäten von Engagierten hin. Auch aus früheren Fluchtbewegungen ist bekannt, dass Unterstützung aus der Bevölkerung selten über längere Zeit stabil bleibt. Von umso größerer Bedeutung ist es, das Engagementfeld zu unterstützen und langfristig zu stärken.“ – Theresa Uhr, Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung